Industrie 4.0 verändert die betriebliche Welt, wie wir sie heute kennen, nachhaltig. Digitale Technologien verändern die bestehende Prozesslandschaft in Unternehmen und deren Wertschöpfungsketten (Kienbaum/VDMA 2022). Mit Implementierung von Industrie 4.0 werden Fertigungsprozesse zunehmend automatisiert gesteuert und Maschinen sind in der Lage, auf der Basis von umfangreichen Maschinen- und Fertigungsdaten Optimierungs- und Konfigurationsprozesse selbst zu steuern. Robotersysteme werden zuverlässiger und besser handhabbar, sodass eine kollaborative Arbeit mit dem Menschen erfolgen kann. Zusätzlich verändert sich die Kundennachfrage, indem die Fertigung einer Losgröße eins in vielen Branchen relevanter wird. Die Produktion orientiert sich immer mehr am Produkt (BMAS 2017).
Technologischer Wandel: Maschinen werden selbst aktiv
Entwicklungen in der Computertechnologie, der Sensortechnik und auf Softwareebene ermöglichen teilweise eine komplette Automatisierung einzelner Berufsprofile (Harteis 2019, Stambolieva 2021). Die Digitalisierung von Unternehmen führt außerdem zu einer zunehmenden Vernetzung der internen und externen Wertschöpfungsketten (Abel 2018, Kienbaum/VDMA 2022). Dies führt zu einer Aufhebung der bisher bekannten Trennung zwischen dem bedienenden Menschen und dem zu bedienenden Werkzeug (Maschine). Softwaregesteuerte Maschinen werden zunehmend selbst aktiv und können eigenständig Arbeitsprozesse in Betrieben beeinflussen. Hierfür bilden Cyber-Physische Systeme (CPS) die Grundlage. Sie verbinden die reale Welt mit virtuellen Abbildern (Digitalen Zwillingen) von Geräten und Maschinen in der Fertigung. So wird eine computergesteuerte Koordination und Organisation von Arbeitsprozessen möglich (Harteis 2019). Dabei entstehen unterschiedlichste Geschäftsprozesse auf Basis von komplexen Systemen mit einer umfangreichen Datenbasis. Diese Daten können für unterschiedlichste Zwecke genutzt werden (Abel 2018).
Ein solcher Wandel der Arbeitswelt stellt jedoch kein Novum dar, sondern ist ein gewohntes Phänomen. Neue Technologien, sich ändernde Handelsbeziehungen, neue Geschäftsmodelle und der demographische Wandel beeinflussen diese Veränderungen (BMAS 2017).
In diesem Kontext ändert sich auch die berufliche Facharbeit. Für die Begleitung der digitalen Transformation und die Arbeit in einem digitalen Umfeld ist es deshalb essenziell, den Bedarf an neuen Kompetenzen und Qualifikationen von angehenden Fachkräften zu erfassen und darauf entsprechend zu reagieren (VDW 2022, Abel 2018).
Spannungsfeld der Digitalisierung: Flexibilität bei gleichzeitiger Komplexität
Arbeitnehmer müssen zukünftig vermehrt produktionsunterstützende Tätigkeiten, wie z.B. Überwachung und Instandhaltung oder die Steuerung von Produktionsprozessen übernehmen und dabei gleichzeitig die IT-Sicherheit im Unternehmen berücksichtigen (Zinke 2019). Arbeit wird durch die digitale Transformation zunehmend flexibler und gleichzeitig komplexer. Flexibilität fordert sowohl das Unternehmen als auch die Arbeitskräfte. Wertschöpfungsprozesse werden vernetzter und zunehmend komplexer. Dabei können in Zukunft lineare und agile Wertschöpfungsprozesse parallel zueinander koexistieren. Dafür müssen die Mitarbeiter über bisher bestehende Team-, Hierarchie- und Unternehmensgrenzen hinweg stärker kooperieren (BMAS 2017).
Wandel zu komplexeren Tätigkeiten: Extrafunktionale Kompetenzen gewinnen an Bedeutung
Da einfache Entscheidungen und Abläufe zunehmend von Technik (z.B. in Form von Assistenzsystemen) übernommen werden können, sinkt der Bedarf an fachlichen Kompetenzen bei den Mitarbeitern. Hingegen steigt die Nachfrage nach extrafunktionalen Kompetenzen, wie z.B. Methoden-, Handlungs-, Problemlöse- oder Sozialkompetenzen. Grundlegendes Prozessverständnis gewinnt an Bedeutung (Despeiss & Lunt 2017, Abel 2018). Neben einer notwendigen Technikakzeptanz wird nicht zwingend ein tieferes Technikverständnis benötigt. Intelligente Assistenzsysteme erleichtern die Arbeit, indem sie belastende, anstrengende oder unattraktive Tätigkeiten übernehmen. So entstehen komplexere und interessantere Tätigkeiten, die jedoch auch eine Arbeitsverdichtung mit sich bringen (BMAS 2017).
Automatisierung entkoppelt Maschinenbediener von der Maschine
Die Einschätzung des zukünftigen Qualifizierungsbedarfs wird dadurch erschwert, dass in vielen Unternehmen Industrie 4.0 noch nicht weit genug umgesetzt ist. Untersuchungen im Kontext der Logistik haben allerdings schon festgestellt, dass sich in bestimmten Bereichen der Qualifikationsbedarfs hin zu IT-bezogenen Kenntnissen, wie z.B. Basis-IT-Kenntnisse und Kenntnisse im Umgang mit technischen Geräten, verschiebt. Szenarien in der Produktion zeigen hingegen umfassendere Veränderungen. Auch hier ist der Umgang mit neuester IT-Technik wichtig. Es kommt hinzu, dass sich die Schwerpunkte der Haupttätigkeiten von Fachkräften von Primär- auf Sekundär- oder Tertiärtätigkeiten verschieben. Einfache Entscheidungen werden zunehmend auf die Technik verlagert und der Mensch durch Automatisierung von der Maschine entkoppelt. So wird es für einen Facharbeiter immer wichtiger Werkzeug-, Prozess- und Produktdaten zu interpretieren, statt das Geschehen vor Ort. Kenntnisse von Steuerungen, von Werkzeugen und Materialien können ebenfalls in geringerem Maße vorgehalten werden. Kernelement der zukünftigen Arbeit kann hingegen die Problemlösekompetenz, z.B. die Reaktion auf Störungen und deren Beseitigung, darstellen (Abel 2018, Kienbaum/VDMA 2022).
Über den Tellerrand hinaus: Vernetzte Prozesse erfordern interdisziplinäres Denken
Arbeitskräfte in der Industrie 4.0 werden voraussichtlich mit höherer Komplexität sowie höheren Anforderungen an das Abstraktionsvermögen und die Problemlösungskompetenz konfrontiert. Beschäftigte müssen wegen zunehmender vertikaler und horizontaler Vernetzung der Betriebe zukünftig in der Lage sein, über den eigenen Arbeitsplatz hinausblicken zu können. Dafür müssen sie sich auch in vor- und nachgelagerte Prozessschritte hineinversetzen können. Somit spielen interdisziplinäres Denken und Arbeiten, aber auch Intuition und Kreativität eine wichtige Rolle (Koch 2017, Kienbaum/VDMA 2022). Hinzu kommt, dass für die Fertigung von Produkten mit Losgröße eins mehr Kundenorientierung verlangt wird (Kienbaum & VDMA 2022). In einer digitalisierten Fertigung spielen Daten eine immer wichtigere Rolle. Daten allein besitzen jedoch keinen Wert, solange sie nicht interpretiert werden. Deshalb ist es notwendig, dass Facharbeiterinnen und Facharbeiter in der Lage sind, die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt zu beschaffen, zu lesen und zu interpretieren. Durch die Vernetzung innerhalb der Produktion entstehen noch weitere Herausforderungen. Da Prozesse enger miteinander verknüpft sind müssen z.B. bei Störungen Teams unterschiedlicher Hierarchieebenen und unterschiedlicher Bereiche zusammenarbeiten. Dies erfordert im Rahmen der Sozialkompetenzen außerordentliche Team- und Kommunikationsfähigkeit (Abel 2018).
Bereitschaft zum individuellen Lernen wird essenzieller Bestandteil des Berufslebens
Tendenziell gehen Experten davon aus, dass in vielen Bereichen eine Höherqualifizierung der Belegschaft notwendig wird (Koch 2017). Aktuelle Curricula der Ausbildungsberufe sind jedoch noch nicht an diese Entwicklungen angepasst. Nach einer Studie des VDMA setzen 79 Prozent der befragten Unternehmen auf außerbetriebliche Bildungs- und Qualifizierungsangebote, um diese Kompetenzlücke zu schließen. Dies stellt besondere Ansprüche an das individuelle Mindset von Fachkräften in Form von Agilität sowie Veränderungs-, Lern- und Innovationsbereitschaft. Dabei spielen vor allem das Lernen im Prozess sowie selbstgesteuertes Lernen eine große Rolle. Inhaltlich wird vor allem auf Angebote von Weiterbildungsunternehmen, verbandliche Qualifizierungs- und Transferangebote sowie Angebote von Herstellerunternehmen gesetzt (Kienbaum/VDMA 2022). Im Hinblick auf die digitale Transformation bedeutet das, dass neben der Berufsausbildung die persönliche Weiterbildung und das fortwährende Lernen am Arbeitsplatz eine immense Rolle spielt und essenzieller Bestandteil des Berufslebens wird (Harteis 2019).